Kowloon Walled City – das gewesene Ankapistan

Kowloon Walled City – das gewesene Ankapistan

Ein großes Manko bei der Diskussion anarchokapitalistischer Gesellschaftsvorstellung ist das vermeintliche Fehlen empirischer Vorbilder. Gegner des Anarchokapitalismus glauben, eine anarchokapitalistische Ordnung wäre inhärent instabil, während Befürworter diesen Spekulationen auch nur ihre eigenen Spekulationen entgegensetzen. An der Gewalt von kriminellen Vereinigungen zerbrochene Staaten können nicht als Beispiel dienen, denn jene waren bereits instabil, bevor sie verschwanden. Auch die Erfahrungen mit staatenlosen Gesellschaften vergangener Tage können nicht ohne Weiteres auf die Moderne übertragen werden. Es gab jedoch einen Ort, der von staatlichen Einflüssen weitestgehend frei blieb, ein Stadtteil Hongkongs, mit dem Namen Kowloon Walled City.

Da sowohl Hongkong als auch die Volksrepublik China konkurrierende Ansprüche auf das Gebiet geltend machten, führte dies dazu, dass sich die Administration beider Staaten aus den Belangen der Bürger weitestgehend heraushielt. Da es - wenn auch in geringem Umfang - dennoch staatliche Aktivitäten gab, ist die Bezeichnung Ancapistan sicher übertrieben, aber einige Aussagen der libertären Theorie lassen sich an diesem historischen Beispiel sehr wohl überprüfen.

Die beste Quelle, die zu dem Thema auszumachen ist, ist das Buch „City of Darkness“ von Greg Girard und Ian Lambot. Man findet auch einiges im Internet, allerdings widersprechen sich viele Darstellungen. Mit „City of Darkness“ lösen sich die meisten dieser Widersprüche auf, daher stammen die Informationen in diesem Artikel fast ausschließlich aus dem Buch.

Kowloon Walled City geht auf ein Fort zurück, das während der Sung Dynastie (960 – 1297) errichtet wurde. Nachdem 1841 die Insel Hongkong Island von Britannien besetzt wurde, wurde das Fort stark ausgebaut. 57 Jahre später unterzeichneten China und Britannien 1898 einen Vertrag, demzufolge die britische Kontrolle über Hongkong ausgedehnt wurde. Für Kowloon Walled City sah der Vertrag vor, dass chinesische Beamte die Hoheitsrechte ausüben sollten, solange diese nicht mit den militärischen Interessen Britanniens bezüglich Hongkong in Konflikt geriet. Die Übergabe der neuen Gebiete verlief jedoch nicht reibungslos und Kowloon Walled City wurde im folgenden Jahr von britischen Truppen besetzt.

In der Folgezeit wurde Walled City kaum weiterentwickelt und verfiel allmählich. Ab 1933 wurden die noch bestehenden Gebäude nach und nach abgerissen. Der Stadtteil wurde in dieser Zeit zu einem Anziehungspunkt für Hausbesetzer. 1947 versuchte die Regierung, die Hausbesetzer zu vertreiben. Dabei kam es zu Unruhen, die bis nach Shanghai und Kanton ausstrahlten und die chinesisch-britischen Beziehungen belasteten. Um die diplomatischen Beziehungen nicht noch weiter zu strapazieren, hielt sich die Regierung Hongkongs von da an aus den Belangen Kowloon Walled City weitgehend heraus.

In welchem Ausmaß die verschiedenen Behörden in das Schicksal des Stadtteils eingriffen, war von nun an sehr unterschiedlich. Mit der Zeit wuchs das Ausmaß der Regulierungen und öffentlichen Leistungen sukzessive an. So war zum Beispiel der Postdienst von Beginn an in Kowloon Walled City aktiv. 1959 entschied das oberste Gericht in einem kontroversen Fall, dass die britische Gerichtsbarkeit Hongkongs auch in Kowloon Walled City galt. Polizeistreifen gab es zusätzlich seit 1961, obwohl diese von vielen Bewohnern gar nicht bemerkt wurden. Nicht verborgen geblieben sind die zahlreichen Razzien, die vor allem zum Ziel hatten, den Drogenhandel einzudämmen. Elektrizität wurde zunächst gestohlen, erst nach einem größeren Feuer in den 70er Jahren wurde Walled City von den Stadtwerken mit Strom beliefert. Die von der Stadt zur Verfügung gestellten öffentlichen Frischwasserleitungen waren bei weitem unterdimensioniert, sodass teilweise “illegale” Brunnen unter der Stadt angelegt wurden oder man das Wasser direkt aus den Rohrleitungen stahl. Erst in den 1970er Jahren wurde eine Kanalisation installiert, zuvor flossen Abwässer über die Straßen in den Untergrund ab. Es gab keine Inspektionen für Hygienevorschriften, allerdings welche für die Arbeitssicherheit.

Die auffälligsten Auswirkungen, die der besonderen Situation Kowloon Walled Citys geschuldet waren, bestand aus der Verschiebung von Aktivitäten, die vom Staat nicht geduldet wurden, in den Stadtteil. Das waren vor allem illegale Gewerbe wie Glücksspiel, Drogenhandel und Hundefleischverkauf, aber auch kriminelle Tätigkeiten wie Hehlerei. In den 70er Jahren wurden diese offenen Aktivitäten durch tausende von Razzien unterbunden. Auch illegale Einwanderer kamen hier in größerer Zahl unter, sie machten etwa ein Zehntel der Bevölkerung aus. Interessanterweise war laut Polizeistatistiken die allgemeine Kriminalität in den 80er Jahren nicht höher als in anderen Stadtteilen.

Da es so gut wie keine Bauvorschriften gab, wurde sehr dicht und ungeplant gebaut. Der Stadtteil war für Autos unzugänglich und es gab nur an wenigen Stellen natürliches Licht, was Walled City den Beinamen Hak Nam, Stadt der Dunkelheit, brachte. Wie bereits geschildert, war darüber hinaus die Versorgung mit Wasser und Elektrizität schwierig und zahlreiche Lebensmittelmanufakturen führten zu einem Ungezieferproblem. Naheliegenderweise waren die Mieten in Walled City günstig. Die dichte Bebauung führte zu einer extrem hohen Bevölkerungsdichte, der Zensus von 1986 ergab, dass der Stadtteil 33.000 Einwohner hatte. Da das Gebiet nur eine Fläche von 2,5 Hektar umfasst, ergibt sich eine Bevölkerungsdichte von 1,3 Millionen Einwohnern pro Quadratkilometer. Das ist bei weitem die höchste Bevölkerungsdichte, die jemals irgendwo festgestellt wurde. (Zur Demonstration: Bei gleicher Bevölkerungsdichte könnte die gesamte Weltbevölkerung auf einer Fläche, so groß wie Luxemburg unterkommen.)

Da man in Kowloon Walled City Steuern und Lizenzen nur zahlen musste, wenn man sich dafür registrierte (was sinnvoll sein konnte, um z.B. Zugang zu Krediten zu bekommen) und die meisten Regelungen nicht durchgesetzt wurden, war die Produktion dort deutlich billiger als andernorts in der Stadt. Es gab etwa 700 kleinere Produktionsbetriebe, darunter viele für die Lebensmittel- oder Plastikverarbeitung. Einige Lebensmittelmanufakturen orientierten sich an den staatlichen Standards, um den Qualitätsanforderungen des Marktes nachzukommen, es gab allerdings auch unprofessionell agierende Unternehmen, die diese Standards nicht einhielten. Viele Ärzte, die sich keine staatliche Lizenz leisten konnten, haben in Walled City eine Praxis eröffnet. Dadurch war die medizinische Versorgung sehr günstig. In dem Stadtteil wuchs auch eine zweite Generation von Ärzten heran, welche der ersten Arztgeneration assistierte und nach den “Lehrjahren” ihre eigene Praxis eröffneten. Allerdings war das fachliche Können dieser Generation nur gering.

Um die Situation der Bewohner zu verbessern, gründeten einige von ihnen 1963 die Kai Fong, die auf freiwilliger Basis Gemeinschaftsleistungen, wie Feuerprävention oder Stadtbeleuchtung, organisierte. Sie ging aus den Widerstandsbewegungen gegen die Regierung hervor, nachdem diese erfolglos versucht hatte, Teile von Kowloon Walled City zu räumen. Sie entwickelte sich schnell zu einer Art Sprachrohr für die Bewohner. Anfangs war sie noch sehr pro-chinesisch eingestellt, arbeitete später jedoch kooperativ mit der Regierung Hongkongs zusammen.

Welche Erkenntnisse lassen sich aus Kowloon Walled City ableiten? Die Frage, ob Rechtsdurchsetzung auch ohne Staat möglich ist, lässt sich hier nicht beantworten, da Hongkongs Polizei dort aktiv geblieben ist. Es bleibt also zu evaluieren welche Auswirkungen das weitgehende Fehlen von Regulierung hatte. Die erste Frage die sich aufdrängt ist, wie die schlechten Umweltbedingungen, also fehlende Kanalisation, fehlendes Tageslicht usw. zu bewerten sind. M.E sind diese Defizite nicht dem Ordnungsrahmen anzulasten. Bei der Versorgung mit Infrastruktur hatte der Stadtteil das Problem von der Stadtregierung abhängig zu sein, die hier in vielen Fällen etwa bei der Bereitstellung von Elektrizität und Wasser ein Monopol hatte. Die gleichen Mechanismen, die Walled City vor Regulierung schützten, sorgten zumindest phasenweise dafür, dass die Anliegen des Stadtteils kein Gehör fanden. Andere Faktoren, die die schlechten Umweltbedingungen verursachten, lassen sich auf die extreme Bebauung zurückführen. Die extreme Bebauung war jedoch nur die Konsequenz aus der entsprechend großen Nachfrage nach Wohnraum. Daran können wir ablesen, dass viele Menschen bereit sind, die Qualität ihrer Umwelt gegen mehr Wohlstand einzutauschen, wenn es ihnen nicht verboten wird.

Eine weitere Beobachtung, die wir hier machen können, ist, dass bestimmte Leistungen, die üblicherweise staatlich bereitgestellt werden, ebenso spontan privat organisiert werden. So wurden im Buch verschiedene Beispiele dafür genannt, wie private Akteure die Funktion von Grundbuchämtern übernommen haben.

Mit der Sino-British Joint Declaration von 1984 wurden die Streitigkeiten zwischen China und Großbritannien ausgeräumt, Kowloon Walled City genoss nun keinen besonderen Schutz mehr. 1986 einigten sich beide Staaten, den Stadtteil zu räumen, im Jahr darauf wurde die Entscheidung der Öffentlichkeit bekannt gegeben. Dazu wurde in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ein Zensus durchgeführt, über den geklärt werden sollte, wer für Entschädigungen in Frage kam. Erst nach dieser Aktion wurden die Bewohner über die anstehende Räumung informiert. Die Entschädigungszahlungen führten diesmal zu einer mehrheitlichen Akzeptanz der Räumung. Alle Einwohner von Kowloon Walled City mussten bis 1992 den Stadtteil verlassen, der Abriss der Gebäude und die Umwandlung des Geländes in einen Park dauerte noch bis 1995 an.

Auch wenn es sich bei Walled City nicht um eine Art Ancapistan gehandelt hat, konnten wir hier einen Ort vorfinden, der außergewöhnlich wenig reguliert wurde. Wie die hohe Bevölkerungsdichte zeigt, machte dies den Stadtteil für viele Menschen zu einem Zufluchtsort vor wirtschaftlicher Not, die andernorts durch staatliche Regulierung verschärft wird.

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rom
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